Am letzten Dienstag veröffentlichte mein Sifu Horst Drescher ein neues Video auf seinem Wing Chun Dao YouTube Kanal. Der Titel ist “Siu Lim Tao – Die Bedeutung der Kleinen Idee.”
Wie ich es von Horst inzwischen gewohnt bin, ist das Video gehaltvoll, knapp vierzehn Minuten und ganz viel Stoff zum Nachdenken. Wie ich es inzwischen auch von Horst gewohnt bin, geht es nur am Anfang und eher nebensächlich um Anwendung und Technik in der Selbstverteidigung.
Er betrachtet die Siu Lim Tao kurz unter dem technischen Aspekt, dass die “Kleine Idee” das Alphabet des Wing Chun darstellt bevor man beim ChumKiu lernt daraus Worte zu formulieren die dann an der Holzpuppe zu ganzen Sätzen,sprich, zur eigenen technisch umsetzbaren Selbstverteidigung zusammengesetzt werden.
Diese handwerkliche Betrachtung ist schon wert, dass man mal darüber nachdenkt weil sie hervorhebt dass Alles im Wing Chun mit der Siu Lim Tao beginnt und endet. Ein Kreislauf des Dao eben der immer wieder zu den Basics, zur Quelle, zurück führt.
Kleine Ideen fürs richtige Leben
Trotzdem wird diese handwerkliche Komponente während des Videos ganz schnell zur Nebensache. Was Horst in den Vordergrund rückt, ist der geistige Aspekt. Was passiert eigentlich in unserem Inneren während der Ausführung der Siu Lim Tao? Ich schreibe bewusst in unserem Inneren weil das nicht nur die Ratio, den Kopf betrifft. Was geht in uns vor? Was für Wirkungen kann die Beschäftigung mit der “Kleinen Idee” haben, weit über den handwerklichen Aspekt von “ich lerne Technik um mich verteidigen zu können” haben?
Horst führt aus, dass die Siu Lim Tao keine Meditation ist, weil sie uns nicht “leer” macht im Sinne von wir lassen alle Gedanken und Emotionen los, sondern uns auf die nächste Bewegung, die nächste Sequenz die wir möglichst präzise ausführen wollen, fokussiert.
Das ist auch richtig , wenn ich vom Zen Buddhismus komme der lehrt das wir durch Meditation unsere Gedanken und Gefühle loslassen und wie Wolken davonziehen sehen. Zen-Meditation befreit uns von Ballast indem wir uns bewußt werden das Gedanken und Gefühle – diejenigen die uns belasten und leider auch diejenigen die uns Freude bereiten – nur temporär sind, nur Energie die wir größtenteils selbst erzeugen.
Für mich ist die Siu Lim Tao dann doch Meditation in einem (leicht) veränderten Kontext. Sie ist Meditation für mich in dem Sinne dass mich die Siu Lim Tao ins Hier und Jetzt holt. Vergangenheit und Zukunft sind für die Dauer der Kleinen Idee ausgeblendet. Nur die nächste Bewegung in diesem Moment zählt. Nur das Hier und Jetzt existiert. Auch wenn dieser Blickwinkel etwas anders ist als er Zen Buddhismus, ist der Effekt sehr ähnlich.
Power To The People
Die Ausführung der Siu Lim Tao befreit uns.
Kürzlich habe ich auch auf YouTube einen sehr treffenden Satz gehört.
“Hast Du Depressionen, lebst Du in der Vergangenheit. hast Du Angst, lebst Du in der Zukunft.”
Als einer der oftmals Schwierigkeiten hat im “Jetzt” zu sein, weil meine Gedanken entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit verweilen, finde ich diese Aussage sehr wahr.
Durch die Meditation der Siu Lim Tao (verzeih mir Horst, dass ich es dann doch so nenne) bin ich hier und jetzt weil ohne diesen Fokus die Bewegungsausführung schlampig wird. Ist so, ich habe es probiert 🙂
Horst greift diesen Gedanken auch auf, nur etwas anders formuliert wenn er einen Zeitstrahl entwirft der von unserer Geburt bis zu unserem Tod reicht und darin diesen Moment indem wir die Siu Lim Tao praktizieren verortet.
Jetzt in diesem Augenblick in dem wir die Siu Lim Tao praktizieren, sind wir die Summe all unserer Erfahrungen vom Moment unserer Geburt bis zu diesem Augenblick. Durch das Üben der Kleinen Idee schaffen wir uns selbst unsere nächste Erfahrung. Wir haben uns entschieden die Siu Lim Tao jetzt und hier zu praktizieren und diese Erfahrung unserem Leben hinzu zu fügen.
Und was können wir uns jetzt dafür kaufen?
Wie ich finde eine ganze Menge.
Erstens, so wie ich entscheide die Siu Lim Tao zu üben kann ich auch andere Entscheidungen treffen und andere selbstgewählte Erfahrungen meinem Leben hinzufügen. Ich fahre zum Beispiel 150 Kilometer nach Rheine oder in die andere Richtung nach Duderstadt zu Stephan Heddinga um authentischen Wing Chun zu erlernen statt irgendeinen Mist in der WT-Butze zehn Kilometer entfernt. Das ist eine selbst und bewusst gewählte Erfahrung und deswegen ist auch nichts falsch daran, dass ich mehr Aufwand und Kosten damit habe. Ich gehe meinen Weg – mein Dao – und ich habe entschieden, dass es nicht der bequemste Dao sein soll. Ich habe die Verantwortung für mein Leben übernommen und damit aber auch die Freiheit gewonnen meine Erfahrungen selbst zu schaffen.
Eingedampft auf zwei Sätze:
Wing Chun und Siu Lim Tao sind ein gelebtes Beispiel das ich mein Leben selbst gestalten kann. Nicht jederzeit einhundertprozentig weil ich Teil eines Ganzen bin, aber in weiten Teilen und solange ich atme.
Wir haben alle keinen Grund uns als Opfer in unserem Leben zu fühlen.
Zweitens, während ich die Siu Lim Tao praktiziere, relativieren sich meine Sorgen und Probleme. Sie haben eine Viertelstunde Pause. Das befreit den Geist und ermöglicht entspannter und gelöster zu Lösungen zu kommen. Ein verkrampfter Geist produziert keine neuen Ideen, weder große noch kleine. Gerade während ich dies schreibe, wird mir bewusst wie vielschichtig dieser Begriff “Kleine Idee” doch ist.
Die Siu Lim Tao befreit den Geist und kann uns helfen “kleine Ideen” für die Probleme des Alltags zu finden.
Drittens, Horst entwickelt während der Aufzeichnung eine Zeichnung die ich sehr interessant finde.
Er spricht davon wie wir auf unseren bisherigen Lebensweg zurückblicken können (zum Beispiel während der Siu Lim Tao) und wir aus unseren Erfahrungen Erinnerungen werden, wie daraus Assoziationen und neurale Verknüpfungen entstehen.
Ein Grund warum unser Gehirn immer noch künstlicher Intelligenz überlegen ist, liegt in der Fähigkeit zu assoziieren d.h. Fakten, gespeicherte Informationen und Gefühle miteinander zu verknüpfen auch und gerade auf eine Weise die nicht linear, nicht logisch und für eine binäre Maschine auch nicht nachvollziehbar ist. Daraus entstehen dann ganz neue Erfahrungen, Gedanken und Einsichten.
Heutige KIs haben diese Fähigkeit nicht. Sie haben keine Erinnerung und keinen Kontext sondern arbeiten immer nur mit dem letzten Informationshäppchen das man ihnen eingibt. Es ist in gewisser Weise erlernte Intelligenz, aber Intelligenz ohne Gedächtnis, man könnte sagen eine demente Intelligenz. Die Schöpferkraft die uns gegeben ist und ohne die auch ein meditatives Leben im Hier und Jetzt sinnlos bleibt, ist der Maschine nicht gegeben.
Unsere Lebenserfahrungen haben uns bis zu diesem Moment geführt jetzt wo wie die Siu Lim Tao üben. Von diesem Moment aus blicken wir zugleich zurück auf unsere Vergangenheit.
Dreiecke und Pyramiden statt Röhren und Kästen
Die Zeichnung die Horst daraus entwickelt finde ich in mehrfacher Hinsicht total spannend. Zum einen erinnern mich die beiden Dreiecke an die Pyramiden-Struktur die der optimalen Biomechanik des Wing Chun zugrunde liegt. Ein philosophischer Mensch könnte jetzt behaupten, dass dies ein weiterer Beweis dafür ist dass Wing Chun universelleLebensprinzipien widerspiegelt 🙂 Außerdem erinnern mich die beiden gegenläufigen Dreiecke an ein Prisma oder ein Brennglas durch das wir unser Leben betrachten und durch das wir uns fokussieren können.
Auf was fokussieren?
Erstmal auf das Hier und Jetzt und dann auf die Erfahrungen die wir für den Rest unserer Zeit machen wollen.
Ich könnte mir regelmäßig selbst in den A… beißen dass ich Horst und Stephan nicht begegnet bin als ich dreißig Jahre alt war. Mal abgesehen davon das mir die Körperbeherrschung für den akrobatischen Akt fehlt, bringt mir das aber nichts. Ich kann nur noch die Zeit nutzen die in der Sanduhr verbleiben ist, zwanzig vielleicht fünfundzwanzig Jahre wenn es gut läuft.
Und dann holt mich die Siu Lim Tao wieder ab ins Hier und Jetzt. Denn diesen Moment kann ich gestalten. Und den nächsten. Und den danach…
Dabei fällt mir auf, wenn ich dass auf dem Kopf stehende Dreieck in Horsts Zeichnung nach oben in die Zukunft verschiebe, wird eine Sanduhr-Form daraus. Meine Vergangenheit hat mich zu diesem Moment geführt in dem ich im Zweifachen Pferdestand typische Handbewegungen mache.
Und dieser Moment ist der Startpunkt für Alles was noch kommt und was ich selbst mit gestalten kann.
Wie Horst und Stephan vor knapp sechs Monaten zu mir sagten:
“Es ist Dein Wing Chun. Es ist Dein Weg, Dein Dao.”
Was sie zwischen den Zeilen wirklich sagten, war: „Und jeden Moment hast Du die Schöpferkraft…“
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